2019 registrierte die Polizei in der Schweiz 1’178 Vergewaltigungen* an Frauen. Das sind mehr als drei Vergewaltigungen jeden Tag. Kämen alle Betroffenen an einem Ort zusammen, würden sie ein ganzes Dorf bevölkern: beispielsweise Haldenstein.
NUR EINE VON ZWÖLF VERGEWALTIGUNGEN ERFASST
Doch die Wahrheit ist düsterer. Gemäss einer repräsentativen Umfrage zeigen nur acht Prozent der betroffenen Frauen ihren Vergewaltiger** an. Werden die offiziellen Zahlen der Kriminalstatistik mit der entsprechenden Dunkelziffer ergänzt, steigt die Zahl an Vergewaltigungen auf über 14’000 pro Jahr. Jeden Tag würden demnach fast 40 Frauen vergewaltigt und die Betroffenen füllten eine Stadt von der Grösse Langenthals.
DER TÄTER IST SELTEN EIN UNBEKANNTER
Die Gründe, warum Vergewaltigungen nicht zur Anzeige gebracht werden, sind vielfältig und komplex. Meistens lauert der Vergewaltiger nicht in der Tiefgarage auf. Nur gerade bei einer von fünf Vergewaltigungen kennt die Betroffene den Täter nicht. Dieser stammt vielmehr aus dem nahen Umfeld, ist ein flüchtiger Bekannter oder «guter» Freund. Auch in Paarbeziehungen kommt es oft zu Vergewaltigungen, nicht selten über Jahre hinweg. Der soziale Druck beeinflusst das Anzeigeverhalten.
DIE ANGST, CHANCENLOS ZU SEIN
Viele Betroffene sehen aus Scham oder aus Angst, chancenlos zu sein, von einer Anzeige ab. Die tiefe Verurteilungsrate bei Vergewaltigungen trägt das ihre dazu bei. Oft wissen nur Betroffene und Täter, was wirklich passiert ist. In dubio pro reo schützt so den Angeklagten. Andere Frauen sind unsicher, ob sie überhaupt das Recht haben, Anzeige zu erstatten. So sprach man früher kaum von Einvernehmlichkeit beim Sex und Gewalt in einer Beziehung war lange gesellschaftskonform. Oft gehen Betroffene nicht zur Polizei, weil sie befürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird oder weil sie Angst haben, damit alles nur noch schlimmer zu machen. Und vielen Frauen fällt es schwer, über das Erlebte zu sprechen. In der Gleichung zwischen Selbstschutz und Recht überwiegt die Angst vor einer Retraumatisierung.
Auch nach #MeToo, #SchweizerAufschrei und «nur ja heisst ja» zeigt sich mehr denn je: Ein Paragraph alleine schafft keine Gerechtigkeit. Die Gesellschaft muss endlich dafür sorgen, dass Betroffene zu ihren Rechten kommen und Täter für ihre Verbrechen bestraft werden!
* Unter «Vergewaltigung» fassen wir die Straftaten «Vergewaltigung» und «sexuelle Nötigung» zusammen, wie dies auch umgangsprachlich Usus ist. Per Gesetz gilt in der Schweiz nur das erzwungene Eindringen mit dem Penis in die Scheide als Vergewaltigung. Das Eindringen in die Scheide mit einem Gegenstand oder Finger, das Eindringen in After oder Mund mit einem Gegenstand, Finger oder Penis wird sexuelle Nötigung genannt. Beide Delikte werden juristisch gleich behandelt.
** Auch Frauen sind Täterinnen und auch Männer sind von Vergewaltigungen betroffen. 2019 waren laut Kriminalstatistik 1.5 Prozent der beschuldigten Vergewaltiger_innen Frauen, während Frauen 94 Prozent der Betroffenen ausmachten.